Der Zug von Winnipeg nach Churchill an die Hudson Bay ist voll: Pelztierjäger und Touristen sind gleichermaßen gespannt auf das Schauspiel, das sie 1700 km weiter nördlich erwartet. Nirgends kommt man dem Herrscher der Arktis so nahe wie hier: Die Mündung des Churchill River in die Hudson Bay wird alljährlich Ende Oktober zum Sammelplatz der Eisbären auf ihrer großen Wanderung nach Norden.

Nach Churchill führt nicht einmal eine Straße. Wer in die abgeschiedene Siedlung will, dem bleiben nur das Flugzeug oder der Zug. Zweieinhalb Tage ist man unterwegs. Schon die Fahrt ist ein Erlebnis für sich: Zwei Nächte und einen Tag geht es von der Waldsteppe mit Grasprärie und Laubbäumen quer durch die Provinz Manitoba ins Sumpfgebiet und schließlich in die rauhe Tundra. Die Bahnhält für jeden an, der an den Gleisen steht und winkt: der Jäger, der ein gerade erlegtes Karibu auf den Schultern schleppt und auch für den Outdoor freak, dem der Proviant ausgegangen ist.

Sumpf und Permafrostboden machen den erst 1930 fertiggestellten Bahnabschnitt zum Abenteuer. Der Zug entgleist ein paar Mal im Jahr, wenn irgendwo wieder Gleise abgesunken sind. Doch irgendwann kommt man in dem nur 800 Einwohner zählenden Churchill mit ein paar Containerhäusern, einer Handvoll Kneipen und Geschäften an. Hier tobt im wahrsten Sinne des Wortes der Bär. Pelztierjäger und Touristen warten auf Hunderte !!! Eisbären, die sich in Churchill versammeln, um das Zufrieren der Hudson Bay abzuwarten.

Der Ort liegt auf der Wanderungsroute des Ursus maritimus. Den Sommer über haben die größten Landraubtiere der Erde in der Tundra verbracht und höchstens ein paar Beeren zwischen die Zähne bekommen. Jetzt wollen sie wieder Seehunde und Robben auf den Eisschollen der Hudson Bay jagen. Sie haben einen guten Geruchssinn und können nicht nur Robben ausmachen, sondern auch die Müllkippen von Churchill. Ab Mitte Oktober gilt deswegen in Churchill Ausnahmezustand. Es gibt eine Eisbärennotrufnummer und Kinder werden unter Bewachung mit einem Bus in die Schule gefahren. Nicht selten marschiert einer der bis zu zweieinhalb Meter großen und 600 Kilogramm schweren Polarbären durch die Straßen des kleinen Ortes. Die Einwohner haben gelernt, mit den Bären zu leben. In jedem Auto steckt der Zündschlüssel und Haustüren werden in dieser Zeit nie abgeschlossen, für den Fall, daß sich ein Einwohner blitzschnell retten muß. Bären, die sich in die Stadt vorgewagt haben, werden betäubt und ins “ Eisbärengefängnis “ gebracht. Bis zu vierzig Tiere fassen die Wellblechbaracken in der Nähe des Flughafens. Sobald die Hudson Bay zufriert, werden die Tiere per Helikopter aufs Eis geflogen.
Durch die Eisbären hat Churchill wieder Aufschwung bekommen. Im 17. Jahrhundert wurde der Ort Außenposten der Hudson Bay Pelztierhandel-Company. Heute kommen etwa 10.000 Touristen, um die Eisbären zu bestaunen. Tundra Buggys, ausgestattet mit Toilette und Heizung kriechen wie Käfer durch dieTundra, neugierig beäugt von den Eisbären, die sich ab und zu zur Freude der Käfer-Insassen aufrichten, um ins Innere der Buggies zu spähen.

Abends beim Bier in der Kneipe wird Bärenlatein erzählt. Angeblich wurden bisher nur wenige Menschen von den Eisbären gefressen, zuletzt vor zwanzig Jahren, als ein alter Mann nachts in einem abgebrannten Hotel noch ein paar Hamburger fand und damit zum gefundenen Fressen für Ursus maritimus wurde.